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„Sprechende Stolpersteine“ im Herbst 2020 an der Wiesbadener Volkshochschule

Maidon Bader • Dez. 14, 2020

Stolpersteine haben eines gemeinsam: Sie sprechen nicht. Sie sind stumme Monumente, eingelassen ins Trottoir, da wo einst Menschen unter uns lebten, die im dritten Reich eines gewaltsamen Todes starben oder zur Auswanderung gezwungen wurden.

Am 9. November legen Menschen Blumen ab, stellen Kerzen auf, zeigen ihr Gedenken. Manchmal werden die Steine geputzt und von den Spuren der Verwitterung befreit. Aber was verbirgt sich zwischen den kunstvoll darauf gestanzten Daten von Geburt und Tod?

Das wissen wir als eilig vorübergehende oder flanierende Passant*innen nicht.

Wen interessiert das auch in diesem Herbst 2020, in dem unser Gesichtsfeld eingeschränkt ist, unsere Wahrnehmung beansprucht und ein einziges Thema den öffentliche Diskurs beherrscht? In dem das Andenken an die jüdischen Mitbürger*innen oft nur benutzt wird, um sie für ein Statement gegen die Corona-Maßnahmen ins Feld zu führen?


„Alle Biographien sind interessant und erzählenswert“


Die fünf Teilnehmer*innen, die Ende September zum ersten Kurs-Wochenende „Sprechende Stolpersteine“ an der Volkshochschule Wiesbaden gekommen sind, haben sich entschieden, in die Geschichte der Menschen hinter den Wiesbadener Stolpersteine einzutauchen und ihnen in Form von kurzen Audio-Beiträgen ein Gesicht, eine Stimme zu geben.


In einem ersten Interview stellen sie sich gegenseitig die Frage, warum sie hier im Wissensrouten sind.

Cornelia: "Ich habe mir bewusst etwas ausgesucht, was für mich eine Herausforderung darstellt." (Interview: Andreas. Stolperstein: Victor Weiss.)

Viktoria: "Ich glaube, es ist ganz wichtig, die Leute als die, die sie waren darzustellen und sich nicht nur auf die Tragödie und die Katastrophe zu konzentrieren." (Interview: Helen. Stolperstein: Familie Straus.)

Andreas: "Mir ist es wichtig, den Heinz Lewin zu zeigen, wie er – in meiner Vorstellung – war, nämlich ein Mensch voller Lebensfreude, Lebensmut." (Interview: Cornelia. Stolperstein: Heinz Lewin.)

Helen: "Alle Biographien sind interessant und erzählenswert. Ich sehe mich jetzt nur als Medium das in dem Sinne aufzubereiten, dass es für den Hörer interessant wird." (Interview: Viktoria. Stolperstein: Familie August und Nußbaum.)

Der Einsatz des Mediums

Alles ist neu: Das biographische Material, das fragmentarisch ist und nur in seltenen Fällen aus persönlichen Quellen stammt. Oft sind es Dokumente an Behörden. Wir müssen erkennen, in welchem Zusammenhang sie stehen. Warum wurden sie geschrieben, welche Begriffe von damals müssen wir heute hinterfragen? Frau Naumann-Götting vom „Aktiven Museum Spiegelgasse“, das die Wiesbadener Stolpersteinverlegungen begleitet, macht uns auf diese Dinge aufmerksam.


Foto: Aufnahmesituation, Corona-kompatibel



Am ersten Wochenende bekommen die Teilnehmer*innen ein Aufnahmegerät in die Hand gedrückt und behalten es für die Dauer des Kurses. Cornelia experimentiert mit Zeppelin-Geräuschen, die sie in ihrer Wohnung aufnimmt. Zwischen dem zweiten und dritten Wochenende werden auch die anderen damit beschäftigt, Aufnahmen machen, von Freund*innen und Verwandten, die Zitate sprechen oder kleine Rollen. Zum zweiten Wochenende bringt jede*r einen akustischen Fußabdruck vom Stolperstein mit, eine Aufnahme von Umgebungsgeräuschen. Wir hören genau hin: Was ist da noch außer den Autogeräuschen? Vögel, eine Ampelschaltung, Regen? Wie ist der Charakter der Aufnahme? Melancholisch? Aufgeregt?


Hinhören: Wenn jemand spricht, wie klingt seine oder ihre Stimme?

Wenn wir einen Schnitt setzen, wie wirkt sich das auf eine Aussage im Interview aus?

Wenn wir Ausschnitte aus aktuellen Radio-Dokumentationen hören, wo sind die Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarischen? 

Was ist authentisch, und wo fragen wir uns, ob das jetzt echt oder Fake ist?


Einig ist sich unsere Gruppe darüber, dass wir in unseren Beiträgen transparent sein wollen. Klar machen, welche Mittel wir nutzen und warum. Damit sich unsere Hörer*innen am Ende selbst ein Bild machen können.

Der persönliche Einsatz

„Wie toll, dass der Kurs gratis ist, gerade jetzt, wo manche es sich sonst gar nicht leisten könnten...“ sagte eine Teilnehmerin am ersten Wochenende. 

Ja, tatsächlich konnte die VHS die „Sprechenden Stolpersteine“ im Rahmen des Weiterbildungspakts kostenfrei anbieten. Was auch gut war, denn die Kurs-Teilnehmer*innen investierten ihrerseits eine Menge. Sie brachten Zeit, Engagement und Courage mit, um zum Schluss mit einem fertigen Audio-Stolperstein und vielen neuen Erfahrungen aus dem Kurs zu gehen.


Gemeinsam mit unseren Ansprechpartnerinnnen vom „Aktiven Museum Spiegelgasse“ und unserem Mediencoach Andreas Wrzeschniok hörten wir am Ende des dritten Wochenendes alle Beiträge an. Wir staunten über die Einfälle der anderen. Und wir freuten uns darüber, dass das, was wir gemeinsam als Materialsammlung auf Pinnwände gepinnt betrachtet hatten, jetzt zu „Sprechenden Stolpersteinen“ geworden war.


Ins Pflaster eingelassen auf der virtuellen Wissensroutenkarte warten sie auf euch, auf euer Ohr. 


Foto oben: Nahblick Ausstellung "Heinz Lewin". Sämtliche Fotos: Viktoria Akkurt


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